Wenn ich verschlafe oder Überstunden mache, ist es vorbei mit diesem paradiesischen Zustand. Dann muss ich einen späteren Zug nehmen und gerate ins grösste Gedränge.
Ich habe erst drei- oder viermal in meinem Leben verschlafen, aber vor ein paar Tagen war es wieder mal soweit. Und ich wurde schwer bestraft. In der S-Bahn gab es nicht sechzehn Sitzplätze pro Fahrgast wie sonst, sondern es war gerade umgekehrt. Und im Bus war ich eingepfercht zwischen einer Horde medizinischer Praxisassistentinnen auf dem Weg zu ihrer Berufsschule. Bis vor zwei Jahren habe ich mir das regelmässig zugemutet, aber irgendwann hatte ich das Gejammer der Arztgehilfinnen über ihren angestauten Frust der vergangenen Woche satt.
Ich stehe lieber eine Viertelstunde früher auf, als mir im Bus solche Sachen anhören zu müssen wie "Der Michi hat mich mit einer Albanerschlampe betrogen" oder "Der Chef hat mich zusammengeschissen, nur weil ich eine Woche lang mit der zehnfach zu hohen Strahlendosis geröntgt habe". Mein Motto heisst zwar "Täglich offen für alles", aber die Offenheit hat ihre Grenzen. Wie schreibt doch der Philosoph Hans Saner: "Die exakten Beobachter werden Menschenfeinde" (Hans Saner: Die Anarchie der Stille, Basel 1990, S. 75). Um nicht ein Menschenfeind zu werden, höre ich lieber auf, allzu exakt zu beobachten und hinzuhören.
Weniger schlimm ist es am Abend, wenn ich länger als üblich arbeite - so wie gestern. Da bekommt man zwar mit, wie 12-Jährige mit einer Bierflasche in der Hand durch den Zug torkeln und wie Rentnerpaare alle 30 Sekunden auf die Uhr schauen und sagen: "Jetzt fährt er dann bald ab" und "Jetzt müsste er abfahren" und "Jetzt müsste er schon längst abgefahren sein". Aber wenigstens gibt es noch freie Sitzplätze, und wenn man einen 14-Jährigen, der gerade sein Znacht aus Paprika-Chips und Eistee zu sich nimmt, fragt, ob man sich in sein Abteil setzen darf, bekommt man zu hören: "Ja, easy".