D. hat sich frei genommen an diesem Herbsttag Ende der Neunzigerjahre. Er fährt im Zug zum Flughafen Zürich, wo er von der Zuschauerterrasse aus Flugzeuge beobachten und mit der Videokamera aufnehmen will. Er ist der einzige Passagier im Steuerwagen und sitzt im vordersten Abteil links direkt hinter dem Führerstand. Die anderen Fahrgäste sind viel weiter hinten eingestiegen.
Der Zug hat gerade den Hauptbahnhof Zürich verlassen, fährt durch das Industriequartier, überquert die Limmat und nähert sich, immer noch beschleunigend, dem Bahnhof Wipkingen, als plötzlich das Signalhorn ertönt. Ein paar Sekunden später hört und spürt D. einen Aufprall, und während der Zug schon massiv abbremst, ist nochmals ein Rumpeln wahrzunehmen. Schliesslich hält der Zug an. Der Steuerwagen steht bereits im Tunnel nach Oerlikon, der Rest des Zuges noch draussen im Bahnhof Wipkingen.
Hoppla, denkt D., da war wohl ein Postsack oder so etwas auf dem Gleis. Etwa eine halbe Minute lang ist es ganz still, dann hört er, ohne die Worte zu verstehen, dass der Lokführer über Telefon eine Dienstmeldung absetzt. Nach einer Weile hastet der Kondukteur aus dem hinteren Teil des Zuges an D. vorbei in den Führerstand.
„Ich weiss nicht, ich bin noch nicht nachschauen gegangen“, hört D. den Lokführer zum Kondukteur sagen, bevor sich die automatische Tür wieder schliesst. Als eine Lautsprecherdurchsage den zweiten Kondukteur auffordert, in den Führerstand zu kommen, beginnt D. zu ahnen, dass es doch nicht nur um einen Postsack geht, und Gewissheit erlangt er, als der erste Kondukteur aus dem Führerstand kommt und sich an ihn wendet:
"Entschuldigung, Sie fahren zum Flughafen?"
"Ja."
"Es hat einen Unfall gegeben, es gibt eine Verzögerung."
"Etwas Schlimmes?"
"Ja, es ist jemand unter den Zug gekommen."
Der Kondukteur geht weiter in den hinteren Teil des Zuges. Bald darauf sagt eine Stimme im Lautsprecher: „Meine Damen und Herren, infolge einer Betriebsstörung erhält unser Zug unbestimmte Zeit Verspätung. Wir bitten Sie um Entschuldigung. Wir verständigen Sie, sobald wir etwas Neues wissen.“
Ein Mann mit weissem Pullover, offenbar der Lokführer, kommt aus dem Führerstand, geht in den hinteren Teil des Zuges und kommt nach ein paar Minuten zurück. „Ich bin schnell nachschauen gegangen“, hört D. ihn am Telefon sagen. „Die Person liegt etwa 50 Meter von hier… Doch doch, die ist tot.“
Zehn Minuten lang passiert fast gar nichts, dann meldet sich eine sehr betroffen klingende Stimme über Lautsprecher: „Meine Damen und Herren, infolge einer Betriebsstörung verkehrt dieser Zug nicht mehr weiter. Reisende nach Zürich-Flughafen werden gebeten, hier auf die S2 umzusteigen. Wir bitten Sie um Entschuldigung und danken für Ihr Verständnis.“
D. packt seine Sachen und will aussteigen, als der Mann im weissen Pulli aus dem Führerstand kommt und ihn bittet, den Zug nicht bei der vordersten Tür zu verlassen. Es ist D. sofort klar, warum: Wenn er aussen am Zug vorbei zurück zum Perron gehen würde, käme er an der überfahrenen Person vorbei. „Warten Sie, ich komme mit Ihnen“, sagt der Mann, begleitet D. im Zug etwa zwei oder drei Wagen weit nach hinten und vergewissert sich dann mit einem Blick aus der Tür, dass die Unglücksstelle überschritten ist, bevor er D. aufs Perron entlässt.
Dort warten bereits die anderen Fahrgäste, meist Flugpassagiere mit viel Gepäck. Aus der Ferne ist die Sirene eines näher kommenden Polizeiautos zu hören. Bald darauf fährt die S-Bahn ein. D. muss keinen Flug erreichen, und niemand erwartet ihn am Flughafen. Er könnte also am Ort bleiben und das weitere Geschehen beobachten, aber er lässt sich von seinem Vorhaben nicht abbringen und steigt zusammen mit den anderen Reisenden in die S-Bahn.
Der Kurzzug vom Hauptbahnhof ist bereits gut besetzt, viele Umsteigende finden deshalb keinen Sitzplatz. Im Gedränge steht D. neben einem australischen Touristenpaar bei der Wagentür. Der Mann blickt aus dem Fenster, als der Zug anfährt, D. tut dasselbe und sieht unter dem Unglückszug ein hautfarbenes Etwas, von dem er den Eindruck hat, dass es keinesfalls ein ganzer Mensch sein kann. Der Australier wendet betroffen den Blick ab.
Am Flughafen geht D. wie vorgesehen auf die Zuschauerterrasse und beginnt, Flugzeuge zu filmen. Der Himmel ist bewölkt, doch ausgerechnet über dem Stadtteil, in dem der Vorfall passierte, hat sich die dicke Wolkendecke geöffnet und lässt die Sonnenstrahlen durch. Wenn er religiös wäre, würde er darin ein Zeichen sehen, so aber findet er es einfach nur schön.
Abends, wieder zu Hause, sieht er sich seine Videoaufnahmen an. Aus Langeweile hatte er die Kamera auf der Hinfahrt bereits im Hauptbahnhof Zürich eingeschaltet. Da er auf die linke Seite hinaus filmte und nicht auf die rechte, ist der Zwischenfall nur zu hören: zwei Rumpler im Abstand von etwa fünf Sekunden. D. kann sich ausmalen, dass beim ersten Aufprall die Person vom Steuerwagen erfasst und ein Stück weit aufs Gleis vor den Zug geschleudert wurde und dass das zweite Rumpeln entstand, als die Person überrollt wurde. So also klingt der Tod, denkt D.
Am anderen Tag besorgt er sich alle Zürcher Tageszeitungen, doch als er nirgends eine Meldung über den Vorfall findet, ist ihm klar, dass er nie etwas darüber lesen wird. Es muss ein Suizid gewesen sein, jemand hat sich bewusst vor den Zug geworfen, und solche Vorfälle werden, wie er weiss, von den Medien konsequent verschwiegen.
D. will nicht urteilen, ob das sinnvoll ist oder nicht, aber er wundert sich ein bisschen, dass die Medien stets frech behaupten, ihre Leserinnen und Zuschauer umfassend über alles zu informieren. Dabei gibt es in der wirklichen Welt aussergewöhnliche Ereignisse, die von Hunderten von Leuten direkt miterlebt werden, von denen jedoch die Stubenhocker, die am Frühstückstisch in der Zeitung blättern oder abends vor der Glotze sitzen, rein gar nichts erfahren.