Schwarzfahrer, noch nichts ahnend

Manchmal frage ich mich, ob ich eingreifen sollte, wenn ich sehe, dass fremde Leute sich selber ein Bein stellen. Da fahre ich in Zürich zum ersten Mal mit der S-Bahn auf den Üetliberg (ich wusste bisher gar nicht, dass man das kann) und wundere mich, dass hier die Billettkontrolleure sogar zu dritt unterwegs sind. Heute am Dreikönigstag geben die drei Männer mit Rucksack ein besonders passendes Bild ab. Nachdem sie mich als letzten Fahrgast kontrolliert haben, setzen sich die drei in das Abteil hinter mir, und ich bekomme Teile ihres Gesprächs mit: „Wie oft warst du jetzt schon oben?“ – „Sechsmal.“ – „Um 15 Uhr habe ich Feierabend.“ – „Ein schöner Dienst.“

Oben angekommen, finde ich, dass es sich angesichts der Kälte und des Nebels nicht lohnt, auf den nächsten Zug zu warten. Ich steige also wieder in denselben Zug ein, der in ein paar Minuten in die Stadt zurückfährt, obwohl ich genau weiss, dass ich dann wieder kontrolliert werde. Aber schliesslich habe ich ja mein GA.

Zwei Minuten vor der geplanten Abfahrt steigt auch ein Rentnerpaar mit Wanderstöcken ein und setzt sich ins Abteil schräg vor mir. Die Frau hat ein gültiges Billett, dem Mann hat es offenbar nicht mehr gereicht, seine Mehrfahrtenkarte abzustempeln. O-oh, das gibt Ärger, denke ich und frage mich eine Zehntelssekunde lang, ob ich ihn vor den Billettkontrolleuren warnen sollte. Egal, denke ich, es geht mich nichts an. Und offenbar habe ich mich sowieso geirrt, denn die Frau sagt jetzt: „Es wäre wirklich zu riskant gewesen“, und der Mann pflichtet ihr bei.

Erst als der Zug schon fährt, wird mir aus dem Gespräch der beiden klar, dass ihnen nicht das Schwarzfahren zu riskant war, sondern der Abstieg in die Stadt auf dem vereisten Fussweg. Deshalb hatten sie sich spontan entschieden, den Zug zu nehmen, auch wenn der Mann kein gültiges Billett hatte.

„Billettkontrolle“, ruft einer der drei Männer durch den Wagen und wendet sich an das Paar. „Gut, dass Sie kommen“, sagt der alte Mann, „dann kann ich es Ihnen ja erklären.“ Er zieht eine Mehrfahrtenkarte aus dem Portemonnaie, sagt, dass es nicht mehr gereicht habe, sie abzustempeln, dass er dies aber gleich nach dem Aussteigen an der nächsten Station tun werde. „Ja, jetzt ist es zu spät“, sagt der Kontrolleur. „Sie haben keinen gültigen Fahrausweis, ich muss 80 Franken von Ihnen kassieren.“

Während der zweite Kontrolleur mich über zwei Abteile hinweg von vorher wieder erkennt und mein GA gar nicht mehr sehen will, muss sich sein Kollege vom alten Mann dieselbe Geschichte nochmals anhören: In Ringlikon unten werde er seine Karte jetzt dann sofort abstempeln, oben auf dem Berg habe es nicht mehr gereicht. – „Das glaube ich Ihnen schon“, sagt der Kontrolleur, „aber wir müssen alle Leute gleich behandeln. Ich kann Ihnen mein Visitenkärtli geben, dann können Sie sich bei der Zentrale über mich beschweren. Aber ich muss jetzt 80 Franken von Ihnen verlangen. Zahlen Sie bar oder möchten Sie einen Einzahlungsschein?“ – „Wieviel kostet es? Achtzig Franken?“ – „Ja.“

Der Mann kramt in seinem Portemonnaie und zahlt bar, der Kontrolleur gibt ihm eine Quittung und verabschiedet sich. „So etwas aber auch“, sagt die Frau halblaut und konsterniert zu ihrem Mann. In Ringlikon steigen die beiden aus.


Aus dem fahrenden Zug, 6. Januar 2006

„Was unsere Jugend jetzt braucht, sind nobelpreistaugliche Themen. Wie wär’s damit: Das Verschwinden der menschlichen Intelligenz seit Erfindung der Digitalkamera? (…) Fotografiert wird alles plus X. Schneehasen, Brückenpfeiler, Parkuhren, Ahornsirup, Speisereste, Eiswürfel – um nur die nachvollziehbarsten Motive zu nennen. Das Motiv ‚aus fahrendem Bus gegen untergehende Sonne’ wird geknipst, ohne hinzugucken. Locker aus der Hüfte. Erst mal draufhalten, später könnte es einem Leid tun. (…) Zwar fragt man sich manchmal: Kinder, will das alles denn auch jemand sehen? Für den Pixelpöbel scheint sich diese Frage jedoch gar nicht zu stellen. (…) So viele Überwachungskameras kann der Staat gar nicht aufstellen, dass er die freiwillige Selbstbepixelung noch übertreffen könnte. Ich pixel, also bin ich vielleicht.“

(Harald Schmidt: Mulatten in gelben Sesseln. Die Tagebücher 1945-52 und die Focus-Kolumnen, Köln 2005, S. 179 und S. 175)