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Im Buch „Alles Bahnhof“ von Christoph Grünig und Klaus Koch (Edition Bellvues, Biel/Bienne 2005) sind sämtliche Bahnstationen der Schweiz abgebildet. Das Buch ist nicht nur ein optischer Genuss, sondern auch ein ideales Spielzeug für Besitzer eines Generalabonnements. Schon vor etwa zwei Monaten wollte ich mir einen Spass daraus machen, blind einen Bahnhof auszuwählen und dann dorthin zu fahren.

"Ich will zu dem Bahnhof, der auf Seite 242 in der zweiten Reihe im zweiten Bild von links abgebildet ist“, sagte ich mir aufs Geratewohl, schlug das Buch an der entsprechenden Stelle auf und sah, dass ich also nach Muhen fahren würde, wo immer das auch liegen mochte.

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Ein Blick aus dem Fenster auf den spätwinterlichen Schneesturm hielt mich damals davon ab, aber heute Nachmittag habe ich die Reise nachgeholt. Mit dem ausgedruckten Fahrplan aus dem Internet in der Tasche, aus dem ich jetzt immerhin wusste, dass Muhen irgendwo bei Aarau liegen musste, verliess ich das Haus. Zum Glück kam mir erst unterwegs in den Sinn, dass heute wohl viele Pfadfinder auf dem Rückweg aus dem Pfingstlager sein würden, sonst hätte ich die Sache wieder verschoben.

Im Zug ab L. hatte ich Glück, kein Pfadfindergedränge, dafür verliebte Pärchen auf dem Weg in die Ferien und zwei offensichtlich allein erziehende Mütter mit ihren Kindern im Primarschulalter. Eines von ihnen las den anderen Witze und Scherzfragen aus einem Buch vor: „In welchem Gefäss versteckt sich ein Elch? Im Kelch“ oder „Das Spinnenweibchen will einkaufen gehen. Sagt das Spinnenmännchen: 'Nimm das Netz mit, du weisst ja, wie teuer Plastiktüten sind'“. Die Witze wirkten ansteckend, denn als ein Bub den Bahnhof Thalwil erkannte, sagte ein anderes Kind: „Woher weisst du das? Hast du die Treppe erkannt? Wie heisst sie? Wendel? Hahaha.“

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In Zürich stieg ich in einen mir gut bekannten ICN um: Ich hatte vor zwei Jahren mit der Taufe dieses Neigezugs zu tun gehabt. Bei jeder Tür, also zweimal in jedem Wagen, hängt seither ein Bild, das ich fotografiert habe. Es zeigt ein Gschpänli von mir, das ich jetzt gerne bei mir gehabt hätte.

Zum Glück wieder keine Pfadfinder im Wagen. Erst in Aarau setzte sich eine Pfadigruppe in den Nahverkehrszug, der von dort nach Muhen und weiter nach Schöftland fuhr. Aber es war nicht weiter schlimm. Mir gegenüber sass ein etwa Elfjähriger, der seinen verblüfften, meist älteren Kollegen erzählte, in etwa zehn Jahren wolle er für ein Jahr nach Japan, um die Sprache zu lernen.

So landete ich also in Muhen, einer Halt-auf-Verlangen-Station, wie ich jetzt sah. Etwa zwanzig Minuten verbrachte ich dort und verscheuchte die in dieser leicht absurden Situation aufkommende Frage „Was tust du eigentlich an diesem gottverlassenen Ort?“ dadurch, dass ich ein paar Bilder knipste.

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Dann ereignislose Rückfahrt nach Aarau. Von dort nahm ich einen anderen Weg nach Hause, via Olten und Langenthal, sodass die Reise eigentlich eine Rundfahrt war.

In Langenthal setzten sich sechs oder acht mit schweren Rucksäcken bepackte Mittvierziger beiderlei Geschlechts in die beiden Abteile hinter mir. Ihr Running-Gag während der gesamten Fahrt waren die Blähungen des einen von ihnen. Fast jeder zweite Satz handelte davon, und offenbar war das schon während des ganzen mehrtägigen Ausflugs so gewesen. Sie fanden es unglaublich witzig, aber mir gingen sie auf die Nerven, und ich wünschte mir, dass stattdessen Pfadfinder im Wagen sitzen würden.

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Zu Hause schlug ich dann wieder das Bahnhofsbuch auf und wunderte mich: Dort sieht der Bahnhof Muhen ganz anders aus, als ich ihn heute erlebt habe. Er ist aus einer Perspektive fotografiert, die nicht derjenigen des Zugsreisenden entspricht. Man merkt halt, dass die Fotografen mit dem Auto unterwegs waren. Und das war sicher nicht so abwechslungsreich.